Der falsche Stolz der Scheinheiligen
Da freut man sich als Sommelier auf die exklusiven Verkostungen echter Ikonen und gesuchten Raritäten aus der italienischen Weinwelt, damit man den eigenen Geschmackshorizont erweitern, die damit einhergehende Erfahrungen, sowie sein Wissen dann auch weitergeben kann.
Das ist wichtig, denn nicht jeder hat die Möglichkeit oder gar den Gaumen diese besonderen Weine zu beurteilen!
Was ist das immer für ein euphorisches Erlebnis und Vergnügen, einen feinen Schluck gut gereifte Kulturgeschichte genießen zu dürfen. Einen alten Bordeaux aus dem vorigen Jahrtausend oder einen filigranen Burgunder, der fast so alt ist wie man selber! Super spannend und unvergleichbar wird er zeitlebens unvergessen bleiben. Aus diesem Grund versuche ich übrigens auch all meine gesammelten Weine im Keller mindestens erst nach zehn Jahren zu trinken. Ein perfekt auf den Punkt gereifter Wein erzählt einfach noch mehr von seiner Herkunft und Geschichte. Außerdem kann der Winzer und sein Produkt dann zeigen, was er wirklich kann. Jedes Jahr auf der größten Weinmesse Italiens, in Verona, gibt es diese Möglichkeit für mich.
Ein gutes Dutzend herausragender Italiener schaffen auch mal locker die Volljährigkeit ohne nennenswerte Blessuren und Gebrechlichkeit. Natürlich ist es Immer auch eine Gradwanderung, wie lange man den Wein lagern kann und diesen – dann guten Gewissens! – dem interessierten Publikum vorzustellen und zu kredenzen. Und ja, unbestritten ist es auch immer eine Frage des persönlichen Geschmacks!
Dem Einen schmeckt das „Oxidative“ im Glas noch gut – dem Anderen geht das schon zu weit und ist damit untrinkbar. Dafür braucht man zweifelsfrei eine gute Nase und viel Erfahrung in diesem Bereich, um es auch verantworten zu können.
Wie in jedem Metier, sollte man als Fachpersonal ehrlich zugeben können, wie es um die Qualität des vorgestellten Erzeugnisses steht. Jeder Verkoster würde bei einem, gegebenenfalls unterdurchschnittlichen Niveau eine Zurückhaltung der Ware vollkommen verstehen.
Was aber gar nicht gut ist für die Gunst der kultivierten Genussgesellschaft ist Ignoranz und falscher Stolz einen nicht mehr intakten und fehlerhafte Wein selbstherrlich vorzustellen!
Immer wieder diese groben Enttäuschungen und die Frage nach dem Warum?
Warum schenkt man so klar und eindeutig defekte Weine aus? Egal ob es sich um „Kork“, „Kleber“, „Essig“, „Muff“, „Böckser“ oder andere Misstöne handelt. Mit behäbiger Arroganz, offensichtlichem Desinteresse und „seriöser“ Inkompetenz wird die teilweise stinkende Brühe in aller Seelenruhe pfützenweise an das drängelnde Volk ausgeschenkt.
Gibt es für diese mehrere hundert Euro teuren Flaschen keine adäquaten Fachkräfte, welche zwingend erkennen müsste, dass man so etwas auf gar keinen Fall ausschenken darf?
Wo ist die buchstäbliche Grandezza Italiens, wenn man sie braucht? Wo das gewissenhafte Gefühl der Ehre, der Verantwortung und der reale Stolz auf sein Produkt?
Der offenkundig falsche und überdies zweifelhafte Stolz einen, deutlich über seinem Zenit, gerade noch in den letzten Zügen vegetierender 1991er Brunello Valdicava zu präsentieren, ist wohl deutlich größer als das Eingeständnis, dass er nicht mal mehr als Kochwein taugen würde.

Und – was soll ich schreiben und sagen: alle sechs Flaschen waren am Ende leer getrunken. Da fehlt mir jedes Verständnis. Der berühmte Sassicaia von 1993 aus den üblichen Magnumflaschen war so trübe und so müde, ich hätte ihn frühzeitig erlöst und für immer schlafen gelegt. Aber nein, natürlich wurde er bis zum letzten Tropfen ausgeschenkt und wahrscheinlich auch noch freudig von der anwesenden Gesellschaft honoriert!

Ok, zugegeben 93 war kein großes Jahr in Europa, aber wo bitte ist er denn gelagert worden, in irgendwelchen Schaufenstern oder beim Gutsverwalter unterm Bett?! So geht das leider nicht liebe Qualitätsweinproduzenten! Dafür sind absolut keinerlei honorige Lorbeeren zu ernten.
Leider gibt es bei gleichen, noblen Events negative Beispiele auch umgekehrt: teure, selektive Paradeweine, die noch gar nicht präsent, komplett verschlossen – noch bevor sie „geboren und geschlüpft“ sind werden diese „Babys“ stolz aufgerissen und direkt aus der Flasche in die Gläser befördert. „Das neugierige Publikum“ will es so, es will augenscheinlich unfertigen, grünen Wein. Voller reibender Tannine, beißender Säure und ungestüm, jugendlicher Frische. Ja, ist doch egal, denken sich die Verantwortlichen. Sollen die da vorn an den Gläsern doch den noblen Wein bewerten, wie der so in 5 oder 10 Jahren schmecken könnte! Warum nur präsentiert man die unausgewogenen blutjungen 2021er, die man letzte Woche abgefüllt hat?
Ein Guado al Tasso kostet immerhin 150 Euro und der Castello di Ama L´Apparita kommt auf 250 Euro die Flasche. Toller und einzigartiger Stoff zum träumen gemacht – nur nicht für jetzt und heute. Der hoch gelobte, sowie als Superjahrgang in der Toskana gefeierte 2021er hätte mehr Geduld und weniger Aktionismus verdient. Auch wenn nicht gleich die Kasse klingelt. Ein kostspieliger Weltklassewein sollte auch als solcher auftreten, erkannt und geschätzt werden. So viel künstlich, vorgetäuschter Stolz und perfide Scheinheiligkeit gibt es nur in der Premium-Wein-Welt zu entdecken und zu erleben.

Autor: Der Münchener Sommelier und Weinteacher Ed Richter
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