„Cheers, Euer Durchlaucht!“ Historische Weingläser aus vier Jahrhunderten

by | 29. Jan 2019

Die faszinierenden Weingläser der Sammlung Christian Jentsch

Er ist gebürtiger Sachse. Er hat in Berlin studiert und promoviert. Er ging nach Hamburg in die Ölindustrie. Wurde Professor für Technische Chemie an der FH Kiel. Später Rektor der FH Lübeck. Und er hat ein Faible für historische Weingläser.

Prof. Dr. Christian Jentsch verfügt über die wohl umfangreichste Sammlung alter Weingläser weltweit. Mehr als 700 Exemplare hat er im Laufe der Zeit zusammengetragen. Aus verschiedensten Regionen Europas – und aus vier Jahrhunderten.

Von schlichten Waldglasrömern über wertvolle venezianische Glaskunstwerke bis hin zu modernen Gläserserien von Design-Legenden wie Peter Behrens oder Wilhelm Wagenfeld. Mit vielen davon dürfte schon manche Durchlaucht angestoßen haben. Eine vollkommen einzigartige Kollektion.

Etwa hundert dieser kostbaren Preziosen werden aktuell (wir schreiben Anfang 2019) in der Glashütte Gernheim gezeigt. Die ehemalige Industrieanlage im nordöstlichsten Zipfel Nordrhein-Westfalens wird seit Ende der 90er als Museum genutzt – nachdem das Feuer in der Glashütte zuvor über hundert Jahre vollkommen erloschen war.

Einer von zwei verbliebenen Glastürmen dieser Art in Deutschland

Der Glasturm, der im Bild oben leuchtet wie ein mystischer Ort, stammt aus dem Jahr 1826. Er ist einer von lediglich zwei seiner Art, die in Deutschland noch erhalten geblieben sind. Hinter dem leuchtenden Halbrund wird der Ofen heute wieder angefeuert und Glasmasse geschmolzen.

Und das quasi jeden Tag: Glasmacher zeigen den Museumsbesuchern live, wie mit traditionellen Werkzeugen Trinkgläser und andere Glasobjekte handwerklich geblasen und später kunstvoll geschliffen werden. Und wurden – so wie damals.

Gleich vis-à-vis vom Glasturm befinden sich die früheren Arbeiterhäuser der Industrieanlage. Und auch das herrschaftliche Wohnhaus des früheren Besitzers. In dessen Räumen werden die Weingläser aus der Sammlung Christian Jentsch gezeigt.

Nicht nur Gläser in Vitrinen sehen, sondern auch die Geschichten dahinter

Es lohnt sich, die Ausstellung im Rahmen einer der Sonderführungen zu besuchen – damit man nicht nur Gläser in Vitrinen sieht, sondern auch die Geschichten dahinter. Denn die sind aufregend, vielschichtig, anrührend, bemerkenswert.

Die Ausstellung in Gernheim läuft noch bis zum 12. Mai 2019. Wer es bis dahin nicht bis in den letzten Zipfel Nordrhein-Westfalens schaffen sollte: keine Sorge.

Die Ausstellung „Weingläser aus vier Jahrhunderten“ ist immer mal wieder an verschiedenen Orten zu sehen. Es lohnt sich also, die Augen offen zu halten. Ein winziges Guckloch in diese einzigartige Sammlung und ihre vielen Geschichten haben wir hier unten für Sie freigekratzt.

Glashütte Gernheim

LWL-Industriemuseum
Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur

Gernheim 12
D-32469 Petershagen
Nordrhrein-Westfalen

https://www.lwl.org/industriemuseum/standorte/glashuette-gernheim

Waldglasrömer: Die unangefochtenen Veteranen der Ausstellung

Aus Glashütten, die sich wegen ihres Brennholzbedarfs in Wäldern befanden. Schlichtes, grobes Glas, das sich jedermann leisten konnte. Typisch dafür ist die grünliche Farbe, die vom eisenhaltigen Mix aus Sand, Pottasche und Kalk herrührt.

Glas 1 ist das älteste Exponat der Sammlung. Gefertigt im 16. Jahrhundert im Spessart. Als Scherben im Boden gefunden und deshalb geklebt. Glas 2 ist kaum fünfzig Jahre später entstanden, aber deutlich aufwändiger verarbeitet: feinere Noppen am Schaft und mit Glasfäden um den Fuß.

Weingläser aus 4 Jahrhunderten Sammlung Christian Jentsch: zwei  Waldglasrömer
Weingläser aus 4 Jahrhunderten Sammlung Christian Jentsch: Gläser mit Glasschnitt und Glasschliff

Geschnitten oder geschliffen? Die hohe Kunst der matten Muster

Prunkvoll gestaltete Gläser aus Böhmen. Ab circa 1650 übertrug man dort die Kunst des Edelsteinschleifens auf Glas. Die Exponate zeigen die Entwicklung vom Glas-Schnitt (Bearbeiten mit Kupferrädchen, Öl, Schmirgel) hin zum Glas-Schliff (Bearbeitung mit Schleifscheiben).

Glas 3 aus den Anfängen des Glasschnitts. Glas 2: deutlich filigranerer Glasschnitt aus dem Jahr 1701. Glas 4 kombiniert Glasschnitt mit frühem Glasschliff. Glas 1: Schnitt und Schliff in Vollendung, fein ziselierte Motive, Eckenschliff am Schaft, Kugelschliff im Fussteller.

Große Glaskunst für große Gewächse – lange vor unseren GGs

Als ob Augen nebeneinander ins Glas geschliffen wurden: das „Hundert-Augen-Glas“ 1. Bei Nummer 2 wurde auf das Glas zusätzlich ein Goldrand aufgelegt, der dann nochmal mit Klarglas überzogen wurde, so dass sich das Gold mitten in Glas befindet.

In den Schaft eingearbeitete Goldrubinfäden verleihen Glas 3 seine besondere Farbgebung. Nummer 4 dagegen glänzt in aufwändigem, formvollendeten Schliff mit markanten Kanten und Ausprägungen.

Weingläser aus 4 Jahrhunderten Sammlung Christian Jentsch: Hundertaugenglas, Glas mit Goldeinfassung

Ist es ein Genuss, aus diesen Gläsern Wein zu trinken?

Kommentar von wineroom-Macher Edgar Wilkening

War das ein Genuss, aus diesen Gläsern Wein zu trinken? Ganz sicher ja – zu damaligen Zeiten. Ganz sicher nein – nach unseren heutigen Maßstäben.

Die Art und Weise, wie wir Weine heute sensorisch probieren, wahrnehmen, einordnen, bewerten, gab es zu damaligen Zeiten so noch gar nicht. Und auch diese Art durchtechnisierter Weine, wie wir sie heute bei Winzern und Händlern vorfinden, gab es noch nicht. Deshalb haben unsere Gläser heute andere Formen, anderes Design. Beziehungsweise: Die Gläser von damals haben andere Formen, anderes Design – alles eine Frage des Blickwinkels.

Es gibt jedenfalls keinen Grund, besserwisserisch die Nase zu rümpfen über die im Vergleich zu aktuellen Gläsern degustatorisch oft ungeeignet wirkenden Trinkgefäße von früher. Jede Zeit hat ihre Stilistik, ihren Horizont. Wer weiß, was Weinnasen in zweihundert, dreihundert Jahren über unsere heutigen Riedel-, Gabriel-, Eisch-, Zwiesel-, Stölzle-, Zalto-Becher sagen werden. Nase rümpfen? Besser wissen? Auch wir haben unsere jetzige Stilistik, auch wir haben nur unseren jetzigen Horizont.

Trotzdem eine spannende Frage: Würden wir, sagen wir mal Klaus Peter Kellers G-Max oder einen der legendären Rieslinge aus dem Jahrgang ’59 aus dem goldumlegten Spitzkelch von Friedrich I. probieren, wenn sich die Möglichkeit ergäbe? Auch auf die Gefahr, dass beide dabei nicht vollends zur Geltung kommen: der Wein ebenso wie das Glas?

Ich für mich kann diese Frage klipp und klar beantworten: Ja, würde ich. Mit Vergnügen!

Weingläser aus 4 Jahrhunderten Sammlung Christian Jentsch: Glas für Friedrich von Schweden und die Grafen Kinski

Individuell maßgeschneiderte Preziosen für Herrschaftshäuser und Adel

Spitzkelche des 18. Jahrhunderts. Wurden ganz nach Wunsch bestellt und gefertigt, über weiteste räumliche Distanzen. “ …mit unserem Wappen und dies und das dazu.“ Dienten nicht nur repräsentativen Zwecken, sondern tatsächlich dem Weintrinken.

Glas 1 für Friedrich von Schweden, mit in Gold aufgelegter Sonne und Königskrone. Die langgezogene Luftblase im Schaft ist große Handwerkskunst und nannte sich „nackte Jungfer“. Glas 2 für die Grafen Kinski in Böhmen, mit Wappen, Goldrand und sieben auf einer Höhe in den Schaft eingelegten Luftblasen.

Jugendstil und Art Déco: Je schöner das Glas, desto schöner der Wein

Typisch für die Epoche von Jugendstil und Art Déco sind Ornamentik und organische Formen. Glas 1 aus einer Glashütte in Lothringen. Hier wurde der klare Kelch mit rubinrotem Glas überfangen und anschließend das Muster herausgearbeitet.

Glas 2 und Glas 4 (im Hintergrund) aus den Rheinischen Glashütten in Köln-Ehrenfeld. Nummer 2 zeigt in den Kelch eingearbeitete dunkelviolette Blütenblätter. Bei Glas 4 hatte man grüne Glastropfen auf den Kelch aufgelegt und viskos am Stiel herunterlaufen lassen. Glas 3: Sektschale von Daum-Frères aus dem französischen Nancy, Entwurf von Edmond Lachenal, etwa um 1900 herum.

Weingläser aus 4 Jahrhunderten Sammlung Christian Jentsch: vier Gläser mit Jugendstil-Dekor
Weingläser aus 4 Jahrhunderten Sammlung Christian Jentsch: Gläser von Wilhelm Wagenfeld und Peter Behrens

Weg mit dem Zierrat! Der Funktionalismus des 20. Jahrhunderts

Schlicht, einfach, funktional: Nach dem 1. Weltkrieg brach sich eine neue Sachlichkeit Bahn. Gebrauchsgüter sollten jetzt praktisch sein, gut gestaltet und für jedermann erschwinglich. Industrielle Produktion war die Basis dafür.

Glas 1 und 2: Bowleglas und Weißweinglas aus der Josephinenhütte, Weißbachtal. Im Hintergrund Glas 3 und 4: Burgunderglas und Weißweinglas von Designer Peter Behrens aus der Poschinger Glashütte, Frauenau. Glas 5 und 6 mit freundlichen Grüßen aus dem Bauhaus: Weißweinglas und Burgunderglas von Designer Wilhelm Wagenfeld.

 

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Edgar Wilkening
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