Grünkohl und Wein – geht das? Eine tollkühne Foodpairing-Mutprobe

von | 21. Jan 2019

Nominierung für "Born Digital Wine Awards"

Die Reportage wurde bei den „Born Digital Wine Awards“ am 14. April 2020 als „Best Food and Wine Content“ ausgezeichnet – übrigens als einziger deutscher Beitrag in einem ansonsten internationalen Umfeld. Vielen Dank für diese tolle Auszeichnung!

Als Mutprobe stellen sich manche, den Schal des eigenen Fußballclubs um den Hals, in die Fankurve des Gegners. Andere hüpfen im Tandem aus Flugzeugen und lassen sich kurz vor Bodenkontakt von Seidentüchern auffangen.

All das war wineroom-Macher Edgar Wilkening nicht tough genug. Er suchte etwas Härteres. Die ultimative Challenge.

Und begab sich dafür unter Westfalen. Während eines traditionellen Grünkohlessens. Dort zwang er die Menschen, ihre Bierbuddels beiseite zu stellen und Wein zu probieren – zum Grünkohl!

Ob er das überlebt hat? Und auch: Ob der Westfale das überlebt hat? Die Geschichte einer außergewöhnlichen Mutprobe in vier abenteuerlichen Kapiteln.

wineroom-Macher Edgar Wilkening

Head of wineroom.de & Autor Edgar Wilkening

Kapitel 1
Ein Plan, ebenso haarsträubend wie tollkühn

Food pairing wine with green cabbage bottle of Simonsig Pinotage
Die Einladung kam kurzfristig. Das war bei dieser Art Mutprobe von Vorteil. Denn nach meiner Zusage gab es keine Zeit zum Zaudern und Zögern. Stattdessen Augen zu, Flaschen auf – und durch.

Ich war eingeladen zum Grünkohlessen. Mitten in Westfalen. Dort, wo sich das gefühlte Epizentrum der grünen Kohltöpfe befindet. Wo dem krausen Blattgemüse seit Jahrhunderten gehuldigt wird in langen Winternächten durch rituelle Beigabe von Rauchendchen und Bauchfleisch. So weit, so gut.

Allerdings wird das Grünkohlessen in Westfalen durch einen weiteren rituellen Brauch ergänzt: den des Biertrinkens. Denn Bier, besagt der Volksmund, sei das einzig akzeptable Getränk zu Grünkohl.

Da hatte der Westfale diesmal die Rechnung aber ohne mich gemacht. Ich hatte andere Pläne. Und die waren ebenso haarsträubend wie tollkühn. Statt Wasser zu predigen und Bier zu trinken, wollte ich Grünkohl predigen und Wein einschenken.

Geht das überhaupt: Wein zu Grünkohl? Passt das zusammen?

Schon unter normalen Umständen wird man für diese Frage schnell einen Korken kürzer gemacht. Umso mehr mutiert dieselbe Frage in Westfalen zum Generalangriff auf alle Grundprinzipien landsmannschaftlicher Identität: Was soll das? – Wo kämen wir da hin? – Haben wir noch nie …

Man sagt über die Westfalen, sie seien bodenständig und stur und ihr kulinarischer Horizont reiche kaum über die Ackerfurche hinaus. Eher dürfte man einem Westfalen wohl die Rauchendchen aus dem Schmortopf stibitzen als ihm Wein zur Essensbegleitung hinzustellen. Die westfälische Mutprobe – nicht umsonst nennt man es in Fachkreisen so.

Ich wusste das alles. Ich wusste also, was ich tat.

Kapitel 2
Der Underdog passt wie Arsch auf Eimer

Food pairing wine with green cabbage bottle of Diemersdal Pinotage
Einige Jahre früher, mitten in Hamburg-St. Pauli. Ich stehe am Herd und bereite Grünkohl. Für den Abend erwarte ich Gäste. Allesamt Weinexperten, Händler, Weinfreunde. Wir haben ein Experiment verabredet. Wir wollen probieren, erstens: ob Wein überhaupt zu Grünkohl passt, und zweitens: wenn ja, welcher am besten.

Deshalb stehen an diesem Abend nicht nur Grünkohlteller auf dem Tisch, sondern auch Weinflaschen unterschiedlichster Provenienzen. Riesling, Grauburgunder, Chianti, Burgund, Bordeaux – ein bunter Rutsch durch die weite Welt der Weine.

Es wird gegessen, es wird verkostet, es wird geschlürft, geschmatzt, geschmeckt. Doch der eine Wein lässt den Kohl metallisch wirken. Der andere geht unter gegen die Aromen der Würste. Der nächste wirkt unangenehm spitz …

Aber es gibt eine Überraschung. Ausgerechnet ein Wein, der gut zwölftausend Kilometer entfernt von der norddeutschen Tiefebene wächst, kann das Rennen für sich entscheiden. Deutlich sogar. Ein Außenseiter. Ein Underdog. Einer, den keiner auf dem Zettel hatte. Ein Rotwein auch noch. Ausgerechnet der entpuppt sich als kongenialer Begleiter zu Grünkohl.

Herkunft: Südafrika. Rebsorte: Pinotage. Autochthon. Im Jahr 1924 an der Universität Stellenbosch gezüchtet. Ein zutiefst südafrikanisches Gewächs. Er begleitet den westfälischen Teller auf verblüffend spielerische Weise. Die Frucht und die Würze umarmen das Herbe des Kohls. Aber vor allem die Noten von Rauch und von Speck im Wein bauen eine vorbildliche aromatische Brücke zu Würstchen und Fleisch.

Verblüffte Gesichter am Tisch. Mit so einem Ergebnis hatte niemand gerechnet. Seit diesem Abend steht für mich fest: Wein und Grünkohl, das geht. Sogar ganz formidabel, sofern es sich um traditionell gemachten südafrikanischen Pinotage handelt. In Westfalen würde man sagen: Der passt wie Arsch auf Eimer.

Ob man das dort aber genauso sehen wird?

Kapitel 3
Zwölftausend Kilometer gleich um die Ecke

Food pairing wine with green cabbage bottle of Kanonkop Pinotage
Ich schlief unruhig in der Nacht vor dem Grünkohlessen. Die Einladung war, wie gesagt, kurzfristig gekommen. Ebenso kurzfristig musste ich jetzt an Pinotage kommen. Nur wie?

Wüssten Sie auf Anhieb, bei welchem Händler Sie auf ein Sortiment Pinotage aus zwölftausend Kilometern Entfernung zählen könnten? Eine kleine Internet-Recherche zeigte mir: in Westfalen gleich um die Ecke. Kein Witz!

In einem kleinen, verschlafenen Nest namens Vlotho, gelegen an der Weser, hinter den sieben Bergen, am Rande Westfalens, bei den sieben Zwergen – dort würde es eine gut sortierte Weinhandlung geben, fabulierte das Internet. Abwegig genug allein dieser Gedanke. Aber, sponn das Internet weiter, diese Weinhandlung führe in ihrem Sortiment nicht nur herrliche europäische Gewächse, sondern auch die ferne Rebsorte Pinotage. Kichern: na klar, Pinotage – hinter den sieben Bergen! Und nicht etwa nur einen einzelnen, säuselte das Internet, sondern gleich ein gutes Dutzend, ganz verschiedene sogar.

Wider alle Vernunft machte ich mich auf den Weg. Und siehe da: Es gab ihn wirklich, diesen Ort Vlotho. Es gab tatsächlich diese Weinhandlung. Sie hatte geöffnet. Und sie hatte eine ganz beachtliche Auswahl an Pinotage. Und zwar vorrätig. Ich war geplättet. Und kehrte am Ende zurück, glücklich, verblüfft – aber mit vier unterschiedlichen Pinotage. So ausgestattet fühlte ich mich bereit für meine westfälische Mutprobe.

Kapitel 4
Der Moment der Wahrheit

Food pairing wine with green cabbage bottle of Pinotage
Der Empfang ist herzlich. Irritation erst, als die Gastgeber mein Gepäck bemerken. Ich hatte angekündigt, dass ich Wein mitbringen würde. Aber gleich vier Flaschen?

Beim Eintreten in die gute Stube: Irritation bei mir. Gäste, ja – aber weit und breit niemand, der an einer Bierflasche nuckelt. Komisch. Geben sich geradezu gelassen, die Westfalen hier. Regelrecht open minded. Als seien sie ein normaler Menschenschlag. Und Grünkohl kein landsmannschaftlicher Gottesdienst, sondern ein gewöhnliches Tellergericht.

Aber ich ahnte ja, was hier gespielt wurde: Da kommt dieser Weinheini und will uns unser Bier madig machen – lassen wir schön mal auflaufen, den Heini …

Jeden Moment würde irgendeiner aufspringen und zwei, drei Kisten Bier auf den Tisch wuchten. Ein großes Johlen würde anheben. Und dann würden sie mit schallendem Gelächter jedem eine Buddel in die Pranke drücke. Und mir Haue androhen, falls ich es wagen sollte zu widersprechen. Von wegen open minded. Westfale bleibt eben doch Westfale. Und Mutprobe Mutprobe.

Noch ließen sie sich nichts anmerken. Ich mir auch nicht. Ich spielte einfach mit. Also, bevor das Essen auf den Tisch kommt, schnell die Weine einmal durchprobiert. Der erste eher leicht, fruchtbetont, unkompliziert. “Kann ich mir vorstellen zu Grünkohl”, heißt es in der Runde.

Kann ich mir – bitte was …? Habe ich das gerade wirklich gehört oder ist mein Tinnitus schon betrunken?

Einfach weiter zu Nummer Zwei. Auch fruchtig, aber dichter als der erste, erwachsener, sagt die Runde. Was sind das für weichgespülte Westfalen hier? Haben die irgendwas genommen? Nummer Drei zu Anfang sprittig in der Nase, dabei likörhaft von den Aromen. Nummer Vier eher der wilde, ungewaschene Typ. “Bin gespannt, wie der zum Essen kommt”, sagt einer.

Ich beginne mir Sorgen zu machen. Sieht so die furchterregende Verbohrtheit und Starrsinnigkeit aus, für die Westfalen weltweit gerühmt wird? Keiner, der Bierkisten auf den Tisch wuppt. Keiner, der mir Haue androht. Und keine Spur von stur, die Leute.

Der Grünkohl kommt in herrlich altmodischen Terrinen. Dazu Würstchen, Fleisch, von allem reichlich und großartig zubereitet. Würzig, aromatisch, dicht. Ein Festmahl. Und die Weine dazu? Am Tisch wird geschlürft, geschmatzt, geschmeckt. Und dann kommt Westfalen zu einem einhelligen Ergebnis. Erstens, Rotwein zu Grünkohl, das ist gar nicht so übel. Und zweitens, Wein Nummer Eins, der passt am besten.

Nicht meine Wahl. Ich finde, Wein Eins geht gar nicht zu Grünkohl, sondern Nummer Drei und Vier machen sich fantastisch als Begleiter. Aber hey, ist das hier etwa ein Ponyhof – oder eine Mutprobe?

Und dann, während des Essens, im Laufe der Gespräche, kapiere ich, wo hier die wahren roten Linien verlaufen. Wo die echten Grabenkämpfe ausgefochten werden. Nicht zwischen leichtem Pinotage und schwerem. Nicht mal zwischen Wein und Bier generell.

Die wahren Demarkationslinien kommen erst nach ein, zwei Glas auf den Tisch. Und da versteht der Westfale nun gar keinen Spaß mehr. Wenn es nämlich um die Frage geht, welches die einzig erlaubte, weil einzig richtige Zubereitungsform für Grünkohl ist. Da hat jede Region ihre eigenen Regeln, jedes Dorf seine eigenen Gesetze. Wer die bricht, ist von Stund an vogelfrei in Westfalen.

Die einen erlauben nur Butterschmalz. Anderen bestehen auf Gänseschmalz. Manche geben löffelweise Senf an den Grünkohl. Die nächsten schwören auf Preiselbeermarmelade. Wieder andere behaupten, Hafergriess sei unabdingbar als Beigabe. Einer pocht auf Perlgraupen am Grünkohl. Und nochmal andere akzeptieren ihn ausschließlich getreidefrei.

Und haste nicht gesehen hauen sich die Westfalen, die eben noch harmonisch Wein Eins zum Sieger kürten, gegenseitig das Zeug um die Ohren, als gäbe es kein Morgen mehr, beziehungsweise morgen keinen Grünkohl mehr.

So kennt man sie, so fürchtet man sie, die Westfalen. Unerbittlich und stur. Ein herrliches Völkchen. Ein herrlicher Abend. Denn erst, wenn die Flasche Schnaps auf den Tisch kommt, ebbt der Schlachtenlärm langsam ab und man schließt endlich miteinander den berühmten westfälischen Frieden.

Die vier Pinotage meiner westfälischen Mutprobe

Foodpairing Wein zu Grünkohl Flasche Pinotage Simonsig

1.
Simonsig Pinotage Stellenbosch 2016

Circa 10 Euro

Fruchtbetonte Nase, himbeerig, fruchtjoghurtig, dropsige Noten. Im Mund unbeschwert, unkompliziert und fruchtig. Ein Rotwein in modernem Stil für die „Generation E“ (wie Energydrink). Zu Grünkohl für mich der schwächste der vier Kandidaten: zu viel Frucht und Drops, kaum Würze, Speck und Rauch – da kam er mit der Wucht der Aromen auf dem Teller nicht mit.

Foodpairing Wein zu Grünkohl Flasche Pinotage Diemersdal

2.
Diemersdal Pinotage 2016

Circa 12 Euro

Ebenfalls ein Wein im modernen, fruchtbetonten Stil, aber mit etwas mehr Dichte und Würze als Kandidat Nummer Eins. In der Nase rote Frucht, etwas Speckschwarte, Kohle, auch Nougat. Setzt sich im Mund so fort. Unaufdringliches Tanningerüst, unkompliziert zu trinken. Kann man machen zu Grünkohl – für mich aber ebenfalls nicht erste Wahl zum westfälischen Teller.

Foodpairing Wein zu Grünkohl Flasche Pinotage Kanonkop

3.
Kanonkop Pinotage 2013

Circa 30 Euro

Nach dem Einschenken sprittige Nase, die zum Glück verfliegt mit etwas Luft. 16 Monate in französischem Barrique ausgebaut. Auch das zeigt die Nase: zu dunklen Früchten erdige Noten, mürbes Holz, Specktöne. Im Mund Reife, Körper, Kraft, die mit den Würsten auf dem Teller mithalten können. Für mich der Sieger: bester Grünkohl-Begleiter des Abends.

Foodpairing Wein zu Grünkohl Flasche Pinotage

4.
Springfontein Pinotage 2012 Terroir Selection

Circa 16 Euro

Würzige, saftige Nase, Röstaromen, Trockenobst. Am Gaumen dunkle Früchte und reife Tannine. Kerniger, urwüchsiger Typ. War 10 Monate in französischem Barrique, dazu die Zeit auf der Flasche – schön gereift. Passt mit seiner traditionellen, rustikalen Art herrlich zum westfälischen Teller. Knapp auf Platz zwei gelandet und damit Preis-Leistungs-Sieger als Grünkohl-Begleiter.

Die Nummerierung der Weine hier entspricht den angegebenen Nummern im Bericht oben. Die Abfolge in der Verkostung ergab sich aus: Jahrgang (jüngere Jahrgänge vor gereifteren) und innerhalb gleicher Jahrgänge nach Qualitäts- bzw. Preisstufe (geringere Stufen vor höheren).

Lust auf Ihre eigene westfälische Mutprobe?

Alle Weine dieser Verkostung wurden erworben in der Weinhandlung Wein Schmidt, Lange Straße 144, D-32602 Vlotho. Dort findet sich ein breites Sortiment weiterer Pinotage sowie vieler anderer Weine aus Südafrika, Europa und der übrigen Welt.

Besuch lohnt sich! Das Ladengeschäft in einem ehemaligen Kornspeicher ist hinreißend gestaltet und bietet auf großzügiger Fläche nicht nur Weinen und Feinkost Raum, sondern auch Veranstaltungen und Events.

Online lassen sich die Weine beziehen über die Website
www.fabelhafter-wein.de

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