Mythos Mosel 2016 – Lebenssinn? Oder doch Lügengeschichte?
„Mythos Mosel“. Toller Titel. Klingt gut. Schöne Alliteration. Aber was heißt’n das hier jetzt genau: Mythos? Wir Schlaumeier im wineroom greifen in solchen Fällen ja gern zur 124-bändigen Gesamtausgabe von Wikipedia. Und siehe da: Laut dem ollen Wissensschinken gilt – Achtung, Zitat:
Mythos (sofern dieser Begriff nicht in seiner umgekehrten Bedeutung als ideologische Falle oder Lügengeschichte verwendet wird) als eine Erzählung, die Identität, übergreifende Erklärungen, Lebenssinn und religiöse Orientierung (…) vermittelt.
Oha, starker Tobak! Moselwein als Lebenssinn und religiöse Orientierung! Da müssen sich die Kirchen wohl warm anziehen demnächst. Oder ist am Ende Rio-Reiser-mäßig alles Lüge? In seiner „umgekehrten Bedeutung“ eine raffinierte ideologische Moselwein-Falle, in die wir tappen? Was wollen uns die Moseljünger (Veranstalter von Mythos Mosel) sagen mit ihrem Titel? Der Pressetext hält sich zu diesem Punkt ausdrücklich bedeckt.
Okay, bevor die Diskussion hier zu akademisch wird, halten wir es im wineroom so, dass wir lieber ganz praktisch die Probe aufs Exempel machen. Also werden die Verkostungsgläser poliert, bruchsicher im Flight-Case verstaut und als Handgepäck gen Mosel verschickt. Mal schauen, was dran ist am Mythos.
Vor Ort entpuppt sich Mythos Mosel als zweitägiges Verkostungs-Event, das sich ganz schön in die Länge zieht. Herrliche 26 Kilometer nämlich. So lang ist die Fahrstrecke von Ürzig bis nach Pünderich. Eine Riesling-Reise entlang einiger der schönsten Moselschleifen. Vorbei an Erden, an Lösnich, Kinheim, Kröv, an Enkirch, Reil. Und mittendrin: die ehemalige Weinhandels-Hauptstadt Traben-Trarbach.
In jedem dieser neun Orte öffnen Weingüter am Mythos-Mosel-Wochenende ihre Tore, ihre Keller, ihre Flaschen. Insgesamt 26 Weingüter an der Zahl. Macht also im Schnitt: ein Weingut pro Streckenkilometer.
Aber das ist noch nicht alles – jetzt kommt’s: Jedes der 26 geöffneten Weingüter bietet noch mal drei weiteren Weingüter Unterschlupf. Also 26 + 3 x 26 = macht in Summe über einhundert Weingüter, die ihre Buddels aufreißen. Darunter durchaus auch die Hautevolee der Mosel. Aber ebenso viele junge Weingüter und neue Namen. Respekt – stattliches Line-up!
Wenn man das mal weiterrechnet: Jedes der hundert Weingüter stellt fünf Weine vor. Macht etwa 500 Weine insgesamt. An den zwei Veranstaltungstagen stehen jeweils sieben Stunden Zeit zur Verfügung.
Wer also alles probieren will, hat pro Wein rein rechnerisch 2 x 7 x 60 : 500 = etwa 1½ Minuten Zeit. Straffes Timing. Oder anders gesagt: ebenso realistisch wie aus Elbling von der Obermosel mal ein Großes Gewächs wird.
Um das Ding der Unmöglichkeit doch noch zu meistern, stellen die Veranstalter einen Bus-Shuttle zur Verfügung. Dessen Nutzung ist im Eintrittspreis enthalten (Tagesticket 30 Euro, Zwei-Tagesticket 50 Euro). Und das funktioniert prima. Im 20-Minuten-Rhythmus steuern die Busse zentrale Punkte in den Ortschaften an, von denen die Weingüter dann fußläufig zu erreichen sind. Hop-on, hop-off: Das ist klasse organisiert und macht richtig Spaß.
Leider hat unser Mythbusters-Team nur einen Tag Zeit für seinen Mythos-Mosel-Check. Wein-Journalistin Daniela Stubbe (vom Online-Magazin Kulinariker) und Autor Edgar Wilkening reisen erst am zweiten Tag an, am Sonntag. Das Wetter ist durchwachsen. Sonne, Schauer, alles im Wechsel.
Also volle Konzentration und ab in die Keller. Der Plan: von Traben-Trarbach aus wollen wir uns moselabwärts Richtung Pünderich durchprobieren. So viel wir schaffen an einem Tag.
Dass wir mit Ach und Krach gerade mal aus Traben-Trarbach rauskommen, und nur einen einzigen Ort weiter, nach Enkirch, ahnen wir noch nicht als wir loslegen. Zeigt aber, wie unmöglich das Ding der Unmöglichkeit ist. Wie wenig Elbling Großes Gewächs wird. Oder wie es ein anderer Teilnehmer am Ende des Tages ausdrückte: „Erschreckend, wie wenig man schafft.“
Insofern war’s nur eine Art Mini-Schlückchen von Mythos Mosel, das wir verkostet haben. Aber schon das hatte es in sich. Wir haben gefeierte Namen gesehen, die nicht mehr an frühere Glanzzeiten heranreichen.
Wir haben junge, aufstrebende Weinmacher erlebt, die in punkto Authentizität von Rebsorte, Lage, Jahrgang gnadenlos bis an die Grenzen des Zumutbaren gehen. Und dabei vollkommene Solitäre erzeugen, die aber wohl nur hartgesottenen Nerds zu vermitteln sind.
Und wir haben auch disharmonische Weine im Glas gehabt. Nein, keine Namen! Aber einmal notieren wir unabhängig voneinander einen Ton, den der eine mit „Käsenase“ beschreibt, der andere mit „Erbrochenem vom Baby“. Was unterm Strich aufs Gleiche rausläuft: angesäuertes Milcheiweiß.
Das andere Mal haben wir etwas im Glas, das schon in der Nase unstimmig wirkt, laktisch, mit vollem Kirschjoghurt-Aroma. Der eine weigert sich, so was überhaupt in den Mund zu nehmen. Der andere tut’s. Und bestätigt dann, was zu erwarten war: am Gaumen ebenso unpassend. Der Mythos Mosel: also doch die von Wikipedia prophezeite Falle?
Nein. Denn was wir vor allem erlebt haben, sind fantastische Weiße. Rieslinge, die sich von der Basis bis in die Spitze auf hohem handwerklichen Niveau zeigen. Mit Struktur, Mineralität und Vielschichtigkeit. Geprägt von ihren jeweiligen Weinmachern und deren persönlicher Handschrift.
Vieles davon aus dem üppigeren Jahrgang 2015. Dann meist im feinherben Bereich. Denn die Trockenen aus Fünfzehn sind oft noch „am blubbern“. Insbesondere da, wo spontan vergoren wird. Oder haben, dank sommerlicher Temperaturen, gerade erst das Blubbern wieder aufgenommen.
Ganz vorne dabei während unserer Stippvisite waren Namen wie Weingut Witwe Dr. H. Thanisch Erben Müller-Burggraef. Mit dem ambitionierten Önologen Maximilian Ferger, der seit 2008 sein Ding durchzieht, im Weinberg wie im Keller, konsequent auf Bio und Sponti umgestellt hat und heute komplexe, feingliedrige Rieslinge auf den Tisch stellt.
Oder Mathias Knebel vom Weingut Knebel, der mit seinen filigranen, steinigen Geschöpfen seit Jahren für Furore sorgt. Oder die Quereinsteiger Konstantin Weiser und Alexandra Künstler vom Weingut Weiser-Künstler, die sich – ohne seit Generationen angestammte Kundschaft – einen Dreck um alte Zöpfe scheren, sondern ihre eigene Vorstellung hochkarätiger Moselweine verwirklichen.
Oder, oder, oder … In Summe so viele, die belegen, dass die Region längst an glorreiche Zeiten von vor hundert, hundertfünfzig Jahren angeknüpft hat, als Moselweine weltweit begehrt und oftmals teurer als Top-Bordeaux waren. (Unsere Highlights dieses einen Tages hier en detail .)
Ob man deshalb gleich so weit gehen muss, aus Moselwein wiki-mythosmäßig eine Religion zu stricken, oder ihn Lebenssinn stiften lässt … Eher unangebracht bei einem alkoholhaltigen Genussmittel, finden Sie nicht? Mythos hin, Mythos her – eine großartige Riesling-Reise war’s. Und fest steht: Es lohnt sich, die Weißen von der Mosel öfter in die Gläser zu lassen. Zumal sie, verglichen mit heutigen Top-Bordeaux, geradezu billig sind.
Die nächste Runde Mythos Mosel gibt’s 2017. Dann geht’s von Thörnich nach Piesport. Über Köwerich, Leiwen und Trittenheim. Zieht sich zwar nur 16 Kilometer in die Länge. Aber sicher wieder ein Ding der Unmöglichkeit. Mehr Infos hier. Also vormerken: 9. bis 11. Juni 2017.
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