Mouton Rothschild 1974

von | 17. Juli 2016

Was ist die Vorgeschichte?

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot ausging vom Hohepriester des feinen Geschmacks, dass man schätzen möge die Genüsse der Welt und zu diesem Behufe die größten Gourmets sich hinbegeben mögen, ein jeder nach der Stadt Hamburg, um dortselbst abzuhalten den „1. Hedonistischen Weltkongress“.

Und während in den Gassen Tausende Menschen sich den lollipopbunten Verlockungen des schlechten Geschmacks hingaben, der da geheißen wird „Schlagermove“ und einmal per anno durchgeführt wird durch die Straßen, um sie zu befüllen mit Zerbrochenem und Erbrochenem, versammelte sich aber zur selbigen Zeit ein Dutzend Jünger der Genusskultur in einem nach allen Regeln der Sicherheitskunst geheim gehaltenen und abgeriegelten Ort mitten im Zentrum des Städtchens und huldigte dort den Zeremonien des guten Geschmacks, verköstigte nach Herzenslust, was Land, Luft und Wasser dem Schmeckenden zu bieten bereit sind, und lauschte den Worten der Weisen, die ausschweifende Vorträge als begleitenden Genuss mitgebracht hatten.

Was alles sich tatsächlich zugetragen hat bei diesem ersten Weltkongress seiner Art, wird wohl für immer das Geheimnis des kleinen Zirkels Dabeigewesener bleiben. Aber die Gerüchteküche weiß von sous-vide gegarten Nierenzapfen zu berichten, von Gänseleberpralinen und Kalbsbries und allerlei mehr Sonderbarem, das nicht alle Tage auf den Tellern der Hungrigen landet.

Mehr noch: Passend dazu sollen eine Reihe ebenso außergewöhnlicher Getränke in die Kelche eingeschenkt worden sein. Unter ihnen ein geradezu antiquarisch anmutender Bordeaux vom Château Mouton Rothschild aus dem mehr als vier Jahrzehnte zurückliegenden Jahrgang 1974 – von dem hier und heute Zeugnis abgelegt werden soll.

Was gab’s ins Glas?

Château Mouton Rothschild 1974, Premier Cru Classé.

Welche Ausstattung hat die Flasche?

Bordeaux-Flasche, Naturkorken. Etikett gestaltet vom amerikanischen Maler Robert Motherwell (1915 – 1991), der dem Surrealismus und Abstrakten Expressionismus zugeordnet wird.

Wer steckt dahinter?

Château Mouton Rothschild, La Pigotte, FR-33250 Pauillac, Bordeaux, Frankreich, www.chateau-mouton-rothschild.com

Was ist interessant zu wissen?

Premier Cru? Ha, von wegen! Beim Classement von 1855 wurde Château Mouton Rothschild als Deuxième Cru eingestuft. Auch heute, mehr als 160 Jahre später, hat das berühmte Classement noch immer seine Gültigkeit im Bordeaux  – selbst wenn die damalige Einordnung bisweilen nicht mehr viel mit der Wirklichkeit der heutigen Weine zu tun hat.

Aber eine wesentliche Änderung gab es dann zwischenzeitlich eben doch. Im Jahre 1973 wurde Château Mouton Rothschild, nach jahrzehntelangem Drängen der Eigentümer, vom damaligen französischen Landwirtschaftsminster Jacques Chirac hochgestuft: vom Deuxième Cru zu einem der nunmehr fünf Premier Cru.

Insofern ist der 1974er erst der zweite Wein aus dem Hause Mouton Rothschild, der das Premier-Cru-Siegel trägt. Ob der Wein dem gerecht wird? Spielen wir mal Mäuschen beim „1. Hedonistischen Weltkongress“ und hören, was die Teilnehmer sagen.

Wo kommt das Schätzchen her?

Im Jahr 2000 von einem privaten Weinsammler erworben über ebay.

Was kostet der Spaß?

Aktuell werden für Flaschen des Jahrgangs 1974 Preise zwischen 300 und 600 Euro aufgerufen. Die hier verkostete Flasche lag im Jahr 2000 bei 220 D-Mark, umgerechnet wären das damals also etwa 112 Euronen gewesen.

Wie ist er denn nun, der 74er?

Es stand das Schlimmste zu befürchten. 1974 gilt nicht eben als großes Jahr im Bordeaux. Eher als sehr schwach. Keine guten Vorzeichen. Zumal Mouton Rothschild der Ruf vorauseilt, in großen Jahren überproportional große Weine zustande bringen zu können, in kleinen Jahren aber ebenso überproportional kleine. Anders gesagt: Die Qualität schwankt ganz ordentlich.

Der erste große Schreck dann bei den Verkostungsnotizen im Web. „This wine is totally disintegrated. (…) It warrants a grade of flunked-out as far as wines go“, schreibt ein Nutzer namens kukeymoon auf cellartracker.com in der jüngsten auffindbaren Notiz, gerade mal vier Wochen alt: vom 12. Juni 2016. Sein Urteil: vernichtende 59 Punkte.

Und andere urteilen ähnlich. „Not enough to make me want to drink more than a glass“, notiert matthewf am 13. Mai 2011 ebenfalls auf cellartracker.com. Und bmwcarl ergänzt am 5. Dezember 2011: „Not very much fun to drink as it lacked any sort of fruit whatsoever“.

Mut macht da Peter Moser, Chefredakteur der Zeitschrift falstaff. Er gibt dem 74er im Jahr 2006 immerhin 85 Punkte und berichtet auf falstaff.at von angenehmer Süße, zartem Cassis, erstaunlicher Frische, roten Beeren. Sein Hoffnung schöpfendes Fazit: „Hätte keiner so erwartet.“

Ob unsere Flasche da mitziehen kann? Die ersten Anzeichen machen misstrauisch. Etikett mit leichten Stockflecken. Füllstand top-shoulder. Kapsel einwandfrei. Aber der Korken? Vollständig durchgesipscht. Bricht beim Raushebeln auseinander. Tricky. Aber immerhin keine Fehltöne wahrnehmbar.

Ab damit ins Glas. Dunkles Rubinrot. Deutlich aufgehellte, orangefarbene Ränder. Die ersten zwei Drittel der Flasche klar im Glas. Immerhin hatte die Buddel die letzten Tage vorm Öffnen stehend verbracht, damit sich Feststoffe setzen können. Dennoch das letzte Drittel der Flasche von Trub geprägt.

Aber dafür: Was für eine Überraschung in der Nase. Da ist tatsächlich Frucht. Das Wort Heidelbeere fällt mehrfach im Kongress. Dunkle Früchte. Außerdem Zeder, Tabak, Unterholz. Ja, das alles in deutlichem Reifezustand, aber vollkommen fehlerfrei und einladend. Dem gibt der Kongress nach und probiert.

Ein Raunen im Raum. Überraschend präsent, überraschend frisch. Immer noch lebendig. Wieder dunkle Früchte. Vanille fällt mehrfach. Leder, Tabak. Gute Struktur. Vitale Säure, die noch nicht vom Alter gezeichnet ist. Yep, keine große Länge. „Aber da hat Mouton ja öfter Schwierigkeiten“, grinst einer der Kongressteilnehmer.

Unterm Strich offene Münder, große Augen. Jawohl: kein großer Wein, kein Jahrhundertgewächs, nichts für die Ewigkeit. Aber für ein schwaches Jahr erstaunlich lebendig und auf der Höhe geblieben. Das zeigt er auch bei seinem Verhalten im Glas, in seinem Wandel über die Zeit: die Frucht verfliegt, statt dessen kräutrige Aromen, balsamische Noten, ätherische Töne, das Zedernholz tritt nach vorne.

Glück gehabt mit der Flasche. Gut über die Jahre gekommen. Kein abendfüllender Trinkgenuss. (Bei einem Fläschchen für ein Dutzend Verkoster ohnehin nicht.) Aber zum kräftigen Onglet mit fermentiertem Pfeffer und Steinpilzen gesellt sich der Bordelaiser gerne dazu.

„Werde ich jedenfalls niemals vergessen“, heißt es abschließend im Kongress. Vielleicht das Schönste, was einem 74er heute noch widerfahren kann. Und dann geht’s auch schon weiter: das nächste Highlight im straffen Kongressprogramm wartet.

Aus welchen Gläsern wurde probiert?

Gabriel Glas Gold Edition und Spiegelau Industrie-Gläser.

Wer hat’s probiert?

Die Teilnehmer des „1. Hedonistischen Weltkongress“ am 16. Juli 2016 in Hamburg.

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Nein.

Sind noch offene Fragen?

Mal schauen, ob sich Kongressteilnehmer wohl aus der Anonymität heraustrauen und hier einen Comment hinterlassen?

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